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STARKE FRAUEN

Josefine Schulz-Kininger (2. v.r.) bei den Deutschen Kampfspielen 1922

Während sich der Männersport in Tirol Ende des 19. Jahrhunderts langsam durchsetzen konnte, war es für die Frauen fast ein Ding der Unmöglichkeit, sich sportlich zu betätigen. Dennoch gab es Frauen, die sich dem Sport verschrieben haben, viele von ihnen sind, trotz beachtlicher Leistungen und bemerkenswerter Lebensgeschichten, fast vergessen. Ein Artikel von Karl Graf.

Bäuerlich, konservativ, streng katholisch – das waren die Attribute, für die Tirol noch um 1900 bekannt war. Moderne Strömungen von auswärts hatten es stets schwer, in unserem Bundesland Fuß zu fassen. Dazu gehörte auch die Sportbewegung, die um 1880, von England kommend, Tirol erreichte. Konnte sich der Männersport nur allmählich und langsam durchsetzen, war es für die Frauen fast ein Ding der Unmöglichkeit. Am ehesten waren höhergestellte, bürgerliche Kreise und der Adel bereit, sportliche Tätigkeiten ihrer Frauen und Töchter zu tolerie- ren. Und dennoch kann Tirol auf eine Reihe von frühen Beispielen verweisen: Alice Czelechowski war Tirols erste Skiläuferin (1896), 1898 gab es die ersten Radkonkurrenzen für Frauen auf der damals noch existierenden Rennbahn in Innsbruck. Elsa Greil beteiligte sich ab 1904 bei Tennisturnieren und Rosa Trnka war eine gefeierte Eiskunstläuferin. Einen internationalen Bekanntheitsgrad bis in den skandinavischen Norden erlangte Gräfin Paula Lamberg, die um 1910 bereits über Skischanzen sprang – mit langem Rock und Hut. Mit ihrem Partner Graf Franz Schlick errang sie 1927 den Tiroler Meistertitel im Zweierbob.


Sind die Leistungen dieser Frauen durch sporthistorische Arbeiten in Ansätzen bereits gewürdigt worden, so müssen die Pionierinnen der Tiroler Leichtathletik erst ausder Dunkelheit des Vergessens geholt werden.
Die ersten Tiroler Leichtathletikmeister- schaften wurden 1921 ausgetragen und die Besonderheit dabei war, dass neben zwölf Disziplinen für die Männer auch schon drei Bewerbe für die Frauen am Programm standen (100 m Lauf, Dreikampf, 4x100-m- Staffel). Die anderen Bundesländer hinkten damit weit hinterher, die meisten integrierten die Frauen erst nach dem 2. Weltkrieg in ihr Meisterschaftsprogramm. Und bei diesen Tiroler Titelkämpfen fiel bereits eine Athletin mit einer herausragenden Leistung auf. Josefine Kininger lief die 100 m in 13,0 sec. Was heute Standard bei den Schülerinnen ist, war damals einzigartig, denn nur eine Frau lief 1921 schneller als sie – weltweit!


Große Skepsis meldete der österreichi- sche Leichtathletikverband (ÖLV) an – Leistungen aus der „Provinz“ wurden oft gar nicht registriert und diese 13,0 sec wä- ren sogar österreichischer Rekord gewesen. Eine Prüfungskommission wurde nach Tirol geschickt und diese fand tatsächlich ein Manko. Die 100-m-Bahn wies ein um ein paar cm zu großes Gefälle auf. Daher gab es keine Rekordanerkennung. Die Tiroler waren über diese Entscheidung maßlos enttäuscht, sie ließen diese Marke als Tiroler Rekord weiter bestehen.
Ein Jahr später, 1922, konnte der ÖLV die Klasse von Josefine Kininger nicht ignorieren und er schickte sie nach Berlin zuden Deutschen Kampfspielen. Diese waren als Antwort auf die internationale Sperre Deutschlands (und auch Österreichs) zu den Olympischen Spielen 1920 gedacht. Diese Kampfspiele stellten den Beginn eines bei- spiellosen Aufstieges der deutschen Frauen dar, die in allen Sportarten das Weltgesche- hen in den 1920er- und 1930er-Jahren zu dominieren begannen. Josefine Kininger überstand alle Vorläufe und wurde im Finale Vierte.
Genauso ungewöhnlich wie ihre sportliche Karriere, verlief ihr familiäres Leben. Im Frühjahr 1922, noch vor ihrem Start in Berlin, heiratete sie den Turner Oskar Schulz und 1923 kam ihr Sohn Oskar Schulz jun. auf die Welt. Ein Jahr später war sie wieder bei Tiroler Wettkämpfen dabei. Eine Frau, die trotz Heirat und Kind ihre sportliche Karriere fortsetzte, das war zu dieser Zeit ein absolutes Tabu. Geschützt vor negativen Kommentaren war sie wohl dadurch, dass die Leichtathletik zu dieser Zeit von den Berichterstattern in den Zeitungen nur am Rande Beachtung fand. Ihr Sohn Oskar Schulz war kurz nach dem 2. Weltkrieg ein bekannter Ausdauersportler. Höhepunkt war wohl sein Gewinn der Akademischen Weltmeisterschaft 1947 im Langlauf. Später wurde er ein weltweit anerkannter Mineraloge und Professor für Mineralogie und Petrographie an der Universität Innsbruck. Er starb 2017.


Zur gleichen Zeit als Josefine Schulz-Kininger ihre Karriere endgültig beendete, tauchte mit Emma Grassmayr die nächste herausragende Athletin auf. Sie war tatsäch- lich ein Spross der bekannten Glockengießerfamilie in Innsbruck. Emma Grassmayr muss eine sehr selbstbewusste und emanzipierte Frau gewesen sein, nicht immer zur Freude ihrer Eltern. Nach dem Gewinn der Tiroler Meisterschaft 1925 im 100-m-Lauf, wandte sie sich einem Novum der Tiroler Sportgeschichte zu: Sie wurde die erste Motorradfahrerin Tirols. Sie beteiligte sich auch bei großen Rennen (Zirlerberg, Salzberg usw.) als einzige Frau unter Männern mit den damals stärksten Maschinen. Diese Leidenschaft teilte sie sich mit ihrem Verlobten Eduard („Edi“) Linser. Edi Linser entstammte auch einer bekannten Innsbrucker Unternehmerfamilie, deren Autohandel nun schonin der 4. Generation bis heute geführt wird. Er war wohl der bekannteste Sportsmann der 1920er-Jahre in Tirol durch seine zahlreichen internationalen Erfolge im Motorradsport. Edi Linser und Emma Grassmayr wollten heiraten, allerdings gab es dabei ein erhebliches Hindernis – sie waren zu nahe miteinander verwandt (Cousin – Cousine). Einzig eine päpstliche Erlaubnis hätte dies trotzdem ermöglichen können. Und es kam tatsächlich ein positiver Bescheid aus dem Vatikan. Aber das Schicksal wollte es anders. Edi Linser verunglückte 1929 bei einem Rennen in Wien mit 34 Jahren tödlich. Emma Grassmayr wandte sich wieder der Leichtathletik zu, warf den Diskus über 31 m, was ihr eine Platzierung unter den 50 besten Frauen der Welt einbrachte. Erst 1941 entschloss sie sich zu einer endgültigen Hei- rat. Ihr Bräutigam war Hubert Prachenksy, ein weithin bekannter Tiroler Architekt.
Im Oktober 1929 sorgte eine weitere Tirolerin für großes Aufsehen, diesmal sogar weltweit. Die bis dahin völlig unbekannte Innsbruckerin Hilde Nöbl erzielte einen Weltrekord im Speerwerfen. Mit ihrer Weite von 39,04 m übertraf sie den österreichischen Rekord um über 7 m und den Weltrekord der Deutschen Auguste Hargus um einen knappen halben Meter. Wieder meldete der ÖLV Bedenken an und eine Kommission fand nach langer Suche tatsächlich einen Haken. Das Wurfgerät war um 8 mm zu kurz. Also kein österreichischer Rekord und keine Weiterleitung an den internationalen Verband. Hilde Nöbl konnte ihre Klasse später nicht mehr bestätigen. Noch im Win- ter 1929/30 erkrankte sie an der Wirbelsäule und musste ihre sportlichen Ambitionen bereits mit 17 Jahren aufgeben. Später wurde sie eine recht angesehene akademische Malerin. Sie wuchs in einer sportbegeisterten Familie auf. Ihr Bruder Hans war Teil des berühmten Tiroler Teams der 1930er-Jahre, das den Alpinen Skilauf in kürzester Zeit weltweit populär machte. Er selber baute im argentinischen Bariloche das erste Skizentrum Südamerikas auf.
Betrachtet man die Leistungen dieser drei Frauen, so mag die Erkenntnis erstaunen, dass sie anscheinend aus dem Nichts heraus diese (Welt-)Klasseleistungen erzielten. Tatsache ist es aber, dass auch heute eine talen- tierte junge Frau nicht auf Anhieb 13,0 sec über die 100 m laufen kann, den Diskus über 31 m wirft oder gar knapp 40 m mit dem Speer erzielen kann. Das traf auch für die damalige Generation zu. Die Basis dazu bekamen sie schon als „Zöglinge“ in den Turnvereinen vermittelt.

Traditionelle Institutionen wie es die Turnvereine waren – immerhin konstituierten sich die ersten bereits ab 1862 in Tirol – verpassten oft moderne Strömungen oder bekämpften sie sogar. Dies war der Fall, als die Sportbewegung unser Bundesland erreichte. Tätigkeiten wie Radfahren, Fußballspielen, Skilaufen und andere begeisterten schnell die jungen Bevölkerungsschichten und standen im Gegensatz zu dem oft mili- tärischen Drill in den Turnsälen. Die Turnvereine mussten befürchten, ihr Monopol in der Körpererziehung zu verlieren. Immerhin waren sie um 1900 bereit, zumindest zwei Neuerungen zuzulassen:
• die Aufnahme von leichtathletischen Disziplinen in ihr Wettkampfprogramm.
• die Bildung von Mädchen- und Frauenrie- gen mit öffentlichen Auftritten.
Für die leichtathletischen Disziplinen Lauf, Wurf und Sprung wurde der Begriff „Volkstümliche Übungen“ gewählt und sie waren meist in einem Mehrkampf mit Turngeräten (Reck, Barren, Ringe u.a.) eingebaut. Dabei wurde immer peinlich genau beachtet, Einzelleistungen nicht bekannt zu geben. Das war die deutliche Abgrenzung zum Sport, der gerade dies propagierte. Damit standen sich die mächtigen Institutionen der Körperkultur, Turnen und Sport, von Anfang an feindlich gegenüber.
Das ging oft so weit, dass Turner, die sich bei einem sportlichen Wettkampf beteiligten, vom Verein ausgeschlossen wurden. Dass eine Josefine Kininger und eine Hilde Nöbl (Angehörige des Innsbrucker Turnver- eins) und eine Emma Grassmayr (Mitglied beim Christlich-deutschen Turnverein Innsbruck) ihre Leistungsfähigkeit trotzdem bei sportlichen Veranstaltungen zeigen konnten, mag eine Tiroler Besonderheit gewesen sein. Die beiden großen Tiroler Sportpioniere Alois Martinstetter und Alois Steinegger hatten auch das heimische Turnwesen mitgeprägt. Sie genossen bereits in den 1920 er- Jahren so hohes Ansehen, dass sie sich ohne Konsequenzen für sich und ihre Schützlinge über diese Verbote hinwegsetzen konnten. Ohne sie wären diese Frauen und ihre Leistungen sicherlich in Vergessenheit geraten.

Fotos: Hilde Nöbl beim Speerwerfen, Emma Grassmayr auf dem Motorrad und Josefine Schulz-Kininger (2. v.r.) bei den Deutschen Kampfspielen 1922 über die 100 m. Fotos aus dem Archiv von Karl Graf.

ein Artikel von Karl Graf,

erschienen in WISO Magazin 04/2023 - Arbeiterkammer

23/02/24 15:42, Text: Paul Koller


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